Mit Spanien und Frankreich treten zwei Mannschaften gegeneinander an, die bisher keine Leistungssteigerung verzeichnen können, jeweils aus verschiedenen Gründen.

Die Spanier spielen bereits auf (oder nahe) ihrer oberen absoluten Qualitätsgrenze. Bei den Franzosen weiß man nicht, was sie bisher davon abhielt, sich im Turnier weiterzuentwickeln. Möglicherweise haben les Bleus ein Trainer-Problem, so wie die deutsche Mannschaft zuletzt mit Berti Vogts und davor Erich Ribbeck zehrende Durststrecken zu überdauern hatte und unter der Anleitung des Letzteren in der EM 2000 als Gruppenletzter bereits in der Vorrunde ausschied.

Evidenz für die Trainer-Theorie liefert die bereits vor dem Spiel getroffene Fehlentscheidung des französischen Coaches, auf Nasri zu verzichten, der ja mit Benzema, Cabaye, Ribery gleichsam eine Mannschaft innerhalb der Mannschaft bildet, das einzige Element im französischen System, das dem spanischen etwas halbwegs Adäquates entgegensetzen kann.

In Sinne dieser Vorrede waren folgende vor der Begegnung als Aussagen getroffene Arbeitshypothesen dem Spielverlauf entsprechend mit einem binären Wahrheitswert ("wahr" oder "falsch") zu versehen:

1. Frankreich zahlt dafür, sich auf eine (letztlich dem spanischen Angriffsfußball doch nicht gewachsene) Defensivtaktik festzulegen.

2. Wenn Frankreich gewinnt, dann nur durch frühe Tore.

3. Von Spanien wird über das gesamte Spiel die Initiative ausgehen bzw. die Kontrolle ausgeübt.

4. Das Spiel ist sehenswert aber ohne Spannung.

Aussage 2. stellte sich nach 90. Minuten als völlig irrelevant heraus. Nach 45 Minuten waren die Aussagen 1, 3, 4 zunächst mit "wahr" zu beantworten: Benzema ist bei insgesamt geringer französischer Initiative  öfter als andere Franzosen als ballführender Spieler auszumachen. Und Ribery? Erst in der zweiten Hälfte gestatten die ab der 70. Minute tendenziell nun müder wirkenden und zugleich unterforderten Spanier dem Franck Ribery, seines Amtes als Unruhestifter zu walten. In der ersten Hälfte unterhalb der sensorischen Wahrnehmungsschwelle, laufen nun die wesentlichen  Opportunitäten über den Münchner: So in der 58. Minute (Eckball), der 60. (gefährliche Reingabe auf Debuchy), der 71. (Reingabe nach innen) und der 87. (Eckball).

Damit ist das Maximalziel der zweiten Hälfte für die Blauen aber schon übererfüllt. Wie immer verteidigen die Spanier technisch und taktisch kompetent und nicht zuletzt mit Laufarbeit - aber keineswegs ist ihr Abwehrsystem etwa jenem hermetischen Doppelriegel zu vergleichen, mit dem die Italiener oder Kroaten ihre Defensive auslegen. Die Torlosigkeit der Franzosen liegt ausschliesslich im Mangel spielerischer und taktischer Optionen begründet.

Die Spanier kontrollieren das Spiel in einem Maße, daß man sich fragt, ob sie sich nicht aus schierer Langeweile doch noch zu einer Unachtsamkeit hinreissen lassen würden. Ist es möglich, daß der französische Trainer genau diesem Kalkül folgend mit der Einwechslung des Nasri in der 65. Minute den Peak der spanischen Nachlässigkeit abpassen will und genau zu diesem Zeitpunkt die eingangs erwähnte Viererbande auf den Plan ruft? Hilflos wirkende Spekulationen, gewiss. Aber verfällt man nicht notgedrungen dem Absurden, wenn man sich in Gedanken einer so unlösbaren Aufgabe annimmt, wie jener, der sich der französische Coach in der Vorbereitung der heutigen Partie gegenüber sah?

Aussagen 1, 3, 4 sind auch nach der zweiten Hälfte mit "wahr" zu markieren, auch wenn die Franzosen mehrfach in spanische Tornähe kamen (wenngleich nicht mit wirklich suggestiven Chancen).

In der 91. Minute stockt Xabi Alonso mit einem scharf geschossenen Elfmeter zum 2:0 auf. Spiellogisch irrelevant ist die Wirkung des Treffers die eines Gnadenschusses für ein prognosekonform ausscheidendes Frankreich.

Der weitere Turnierverlauf könnte reizvoller nicht sein: Portugal stößt am 27. Juni im Halbfinale Nr. 1 auf seinen Hassgegner Spanien. Werden die Portugiesen aus Angst vor der eigenen Courage ihren gegen Deutschland begangenen taktischen Fehler wiederholen und ihre formidable Sturmkapazität erst bei einem Rückstand ausschöpfen? Man darf vermuten, ja.

Halbfinale 2: England gibt am heutigen 24. Juni sein Abschiedsspiel gegen Italiener, die sich im kollektiven Selbstbild seit jeher als Eliminatoren der aus ihrer Sicht interessant spielenden aber doch stets harmlosen Deutschen sehen. Womit sie leider richtig liegen. Die wichtigste Frage ist, wie die Difesa degli Azzurri mit dem verletzungsbedingten Ausfall von Giorgio Chiellini zurechtkommt. Wenn die Antwort "schlecht" lautet, könnte das deutsche Team endlich den ersten Schritt tun
auf dem langen Weg einer überfälligen Vendetta für 1982 und 2006.