Ostende, oder Oostende … so wie es in Belgien, oder besser gesagt, in Flandern heißt. Wir sind nach den Erlebnissen rund Ypern in diese so romantische Stadt am Meer gefahren.

Es ist der Abend des sonnigen 18. Juni. Kühler Seewind streicht durch die Straßen. Mein Mann Thomas und ich entscheiden uns zu einem Abendessen in einem unscheinbaren und doch auf eine geheimnisvolle Weise besonders anziehenden Haus, dem „Restaurant Stad Kortrijk“ an der Langestraat 119 in Oostende. Hinter einer alten, bohemigen Fassade aus dem frühen 20. Jahrhundert, abseits des Seedeichs und der Touristenströme, kocht und serviert René Coolsaet traditionelle belgische Gerichte.

Oft schon waren wir hier. Zuletzt gerade mal zwei Abende zuvor mit einer Gruppe von Schülern auf Expeditionsreise für den Frieden, die GT-Herausgeber Norbert Gisder auf Erkundungstouren der Spuren des Ersten Weltkriegs zu den einstigen Schlachtfeldern rund um die Stadt Ypern geführt hat.

An diesem Abend scheint alles wie immer. Das Lokal, in dem linker Hand René, der wendige Koch, für die Gäste einsehbar in einer offenen Küche die Gerichte der belgischen Regionen mit den unentbehrlichen „Frieten“, den Pommes frites, zubereitet, strahlt den Charme einer vergangenen Epoche aus, die weiter wirkt.

Nichts jedoch von der üblichen Urlaubsstimmung mit Sommer, Sonne, Strand ist mir an diesem Abend im Sinn. Ich bin immer noch tief bewegt von den Bildern der einst so furchterregend blutigen Schlachtfelder rund um Ypern, jener Felder, die heute im satten Grün und im sommerlichen Gold prangen und an deren Wegesrändern sich der rote Klatschmohn unablässig dem Wind beugt. Die Begleitung der kleinen Expedition aus Königs Wusterhausen hat ihre Spuren in mir hinterlassen.

Mich lassen die Bilder aus dem „In Flanders Fields Museum“ nicht los, das sich vor allem auf die Fahne geschrieben hat, die persönlichen Geschichten aus den Zeiten der Kriegswirren zu schildern. Ganz besonders hatte mich im Museum ein Filmbeitrag gefesselt. Auf einem Bildschirm schilderte mannshoch ein Schauspieler derart eindrucksvoll, mitreißend, ja herzzerreißend die Geschichte seiner Familie auf der Flucht vor dem allseits drohenden Unheil, dass mir die Tränen in die Augen geschossen waren. Gebannt schaute und hörte ich mir das mehrmals an, gleichsam, als müsse ich es vollkommen in mir aufnehmen. Tief beeindruckt von dieser Darbietung, war es mir kaum noch möglich, den Rest der Ausstellung anzusehen.

Was dieser Besuch des In Flandes Fields Museums mit dem Rest meines Urlaubs zu tun hatte, soll ich jedoch an diesem Abend im Lokal begreifen.

Ich sitze nun also mit Thomas, der nach dem Abschied von meiner Gruppe nach Belgien ans Meer gekommen ist, ins Gespräch vertieft, als ich einen Mann und eine Frau das Restaurant betreten sehe. Sie setzen sich zwei Plätze von uns entfernt an denselben Tisch, der sich über den Großteil des Restaurants erstreckt. Ich nehme die hellen, großen und dennoch traurigen Augen des Mannes wahr, seine silbergrauen Locken, die es schwer machen, sein Alter zu schätzen. Ein halbes Jahrhundert wird er wohl haben. Er setzt sich, steht aber sogleich wieder auf, etwas schwerfällig wirkt das und seine Rechte scheint nicht voll funktionsfähig, um aus dem bereitstehenden Kühlschrank ein Bier zu holen und sich die Flasche selbst zu öffnen, ganz, als wäre er hier zu Hause. Auch das Öffnen der Flasche fällt ihm schwer. Er ist allem Anschein nach halbseitig gelähmt ... vielleicht ein Schlaganfall ...

Thomas und ich reden weiter. Die beiden Tischnachbarn unterhalten sich ebenfalls. Mein Blick fällt immer wieder auf diesen Mann. Er hat so etwas Besonderes. Er fesselt mich. Weckt meine Neugier. Aber seine Sprache ist nicht meine Sprache. Ich verstehe nur ab und zu ein paar Fetzen.

Auf einmal wendet er sich uns zu. Spricht uns an. Ganz offen. In unserer Sprache. Welche Überraschung!

Nun sind die Flamen ja offene Menschen, sprechen viele Sprachen. Auch oft Deutsch! Dieser Mann aber fragt mich unvermittelt, warum wir in Ostende sind. Er sagt, er wundere sich, denn eigentlich verirrten sich in dieses Lokal nicht viele Touristen. Ich erzähle von der Reise mit den Gymnasiasten, von den Schlachtfeldern, von der Friedensroute mit dem Fahrrad entlang der nahezu unzähligen Gräber, vom Flanders Fields Museum.

Er hält inne. Lange folgt Stille. Nichts, kein Wort. Spannung füllt den Raum, aus der sich aber niemand lösen will. Dann fragt mich der Mann, ob ich denn auch jenen Erzähler im vorderen Bereich des Museums auf dem Bildschirm zur Kenntnis genommen hätte. Eben den, dessen Darbietung mich wie kein zweites Exponat im Museum gefesselt hat.

„Natürlich!“, sage ich, plötzlich ganz aufgeregt: „Ich war vollkommen von seiner Geschichte in den Bann gezogen! Fasziniert, ja tief ergriffen.“ Meinem Gegenüber schießen Tränen in die Augen. Er wischt sie weg. "Dat doet iets met mij" („Das bewegt mich“), sagt er in Vlaams ... kehrt in die deutsche Sprache zurück und fügt hinzu: „Es war mein Urgroßvater. Er erzählt die Geschichte meiner Familie. Ich habe sie aufgeschrieben.“ Die Stimme des Mannes gerät ins Stocken ... bevor er sich wieder seiner Begleiterin zuwendet, sagt er – mit einem tiefen Blick in meine Augen - „das ist das Erbe meiner Familie.“

Kurz später stehen die beiden auf. Zum Abschied gibt der Mann Thomas und mir die Hand. „Angenehm. Patrick.“

Almut Schaebbicke, Übersetzungen (italienisch, französisch)

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